Die Welt als Bauernmarkt

Frühstückszeit bei „Forager“, einem kleinen Unternehmen im südlichen England. Foraging – das ist das englische Wort für Wildpflanzen sammeln, und die Menschen, die hier arbeiten, pflücken Wildpflanzen, um sie an Londoner Toprestaurants zu verkaufen. Das Grünzeug landet auf den Schneidebrettchen von Spitzenköchen, die ihre Begeisterung für das wilde Gemüse entdeckt haben. Miles Irving, Chef und Wildpflanzenpionier, kommt aus der Küche mit einem Glas in der Hand, in dem etwas Schwarzes herumkrabbelt. Es sind Ameisen. Waldameisen genauer gesagt, frisch aus den umliegenden Wäldern.

Es ist mein erster Arbeitstag, und sechs überwiegend blonde, bärtige, langhaarige, äußerst gesund wirkende Burschen sitzen um einen Holztisch zur wöchentlichen Teamsitzung, inklusive Wildpflanzenimbiss. Vor jedem steht ein wunderschön dekorierter Teller voller Blätter und Blumen: gebratene Strand-Salzmelde und einige Köpfchen Meereskohl, blanchierte Wiesen-Kerbelstängel zu einem Salat aus Wiesenschaumkraut, Vogelmiere und Strand-Aster, dekoriert mit Blüten von Ginster, Mahonie und Kirschpflaume.

Nur eine kleine Auswahl der langen Produktliste, die die Forager ihren Kunden anbieten. Doch Miles experimentiert noch mit den Ameisen. Er lässt sie auf einen Klecks Mayonnaise fallen. Es ist ein bisschen grausam zu beobachten, wie die kleine Kreatur versucht sich aus der sumpfigen Substanz zu befreien. Aber es hat auch eine gewisse Schönheit – das Schwarz des Ameisenkörpers kontrastiert mit dem weiß der Mayonnaise, und zusammen mit den Blumen und Blättern sieht es toll aus. Miles kostet davon und ist nicht begeistert. „Man schmeckt die Ameise gar nicht!“ Also schüttelt er die Ameisen einfach über den Teller, auf dem sie nun planlos umherlaufen. Das sieht nun noch viel toller aus. Wie ein Kunstwerk. Eine Performance. Ein Spiegel der Natur und was sie gerade in dem Moment zu bieten hat. Wir fangen an zu essen, ab und zu angeln wir uns eine Ameise mit dem befeuchteten Finger und stecken sie in den Mund. Ich kann kaum glauben wie einfach es mir fällt, nachdem ich sehe wie alle anderen es machen. Es ist mein erstes Insekt, das ich bewusst esse. Lebend. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, erstaunlich sauer im Mund, wie ein Spritzer Zitrone, ein bisschen crunchy. Es ist wie ein Dressing für das Grünzeug. Zusammen schmeckt es fantastisch.

Ich bin nicht sicher, ob unsere Vorfahren Ameisen aßen, ich weiß auch nichts über ihren Nährwert. Aber eins ist sicher: all diese Geschmäcker auf dem Teller sind aufregend. Sie sind neu. Sie stellen eine Vielfalt dar, die mir bislang kein Supermarkt geboten hat. Nicht mal ein Bio-Markt. Es ist der Beginn eines tiefgreifenden Umdenkens. Es ist der Beginn meiner Wildpflanzen-Liebe.

Natur oder Kultur? Wilde Vielfalt versus Monotonie der Äcker

60% unserer Mahlzeiten (gemessen an der Kalorienzufuhr) besteht aus Weizen, Reis, Kartoffeln und Mais. Vier so genannte Grundnahrungsmittel stehen einem Speiseplan gegenüber, der bei Sammler- und Jägergesellschaften noch weit mehr als 100 verschiedene (Wild)Pflanzen umfasst hat. Wie ist diese enorme Kluft zu erklären? Der Grund liegt in der Einführung der Landwirtschaft. Der Anbau einiger ausgewählter Pflanzen führte zwangsläufig zu einer Spezialisierung auf bestimmte, wenige Sorten. Globalisierung und Modernisierung haben schließlich insgesamt zu einer Homogenisierung der Nahrungsmittel geführt, und zwar auch zu einem Verlust an genetischer Vielfalt innerhalb einer Obst- oder Gemüseart (und zwar um 75% im letzten Jahrhundert). Was das bedeutet, kann man im Supermarkt beobachten, wo sich das Apfel- oder Kartoffelangebot meist auf drei bis vier (immer gleiche) Sorten beschränkt.

Monokulturen auf den Äckern führen logischerweise zu Monokulturen auf unseren Tellern. Leider hatte die Züchtung des einstigen Wildgemüses noch eine weiteren Nachteil: sie hat auch zu einer Reduktion des Nährwertes geführt. Der als unangenehm und bitter empfundene Geschmack vieler Wildpflanzen wurde dem „Kulturgemüse“ einfach weggezüchtet – und damit auch eine Vielzahl der nützlichen Inhaltsstoffe. Analysen zeigen indes: Wildpflanzen sind unser lokales Superfood! Löwenzahn oder Vogelmiere haben acht mal soviel Vitamin C wie Kopfsalat, der Mineraliengehalt von Brennessel, Bärenklau oder Franzosenkraut liegt weit über dem von Mangold oder Grünkohl. Außerdem wären da noch die sekundären Pflanzenstoffe, Antioxidantien, Flavonoide, Spurenelemente… und nicht zu vergessen: Bakterien für eine gesunde Darmflora. Auch da sorgen Wildpflanzen für eine Vielfalt, die wir durch Kulturgemüse in geringerem Maße aufnehmen. Menschen mit „westlichem“ Lebensstil verfügen nur über ein Drittel an Darmbakterienarten verglichen mit einem Menschen aus einer Jäger-Sammlergesellschaft.

Wir können nur erahnen, wie das Nährwertprofil einstiger Jäger und Sammler aussah und der Einfluss, den die überwiegende Versorgung mit Wildpflanzen auf ihre Gesundheit hatte. Für mich liegt ein Gedanke nah: Vielleicht liegen viele heutige Gesundheitsprobleme gar nicht nur an einem „zu wenig“ an Obst und Gemüse, sondern an der fehlenden Vielfalt? An einem viel zu eingeschränkten Speiseplan?

Wildpflanzen verwandeln die Welt in einen Bauernmarkt

Seit ich weiss, was an essbarem Wilden um mich herum wächst, stellt das Angebot egal welchen Marktes für mich oft nur den traurigen Ausschnitt eines enormen Reichtums dar. Da hilft auch kein Bio. Die Landwirtschaft hat uns zwar eine gewisse Lebensmittelsicherheit geschenkt (und zugegebenermassen hat die Züchtung auch viele Geschmackseigenschaften verfeinert), aber sie hat uns eines wirklich abwechslungsreichen Speiseplans beraubt. Sie reduziert die unermessliche Speisekammer, die unsere Landschaften ursprünglich einmal für uns gewesen sind, auf einen Bruchteil. Für mich hat sich durch Wildpflanzen eine neue Welt geöffnet: neben dem gesundheitlichen Wert geht es um neue Geschmäcker, um neue Rezepte, darum, Wildpflanzen kreativ in der Küche einzusetzen und zu einem Teil meines Lebens zu machen. Die Forager-Produktliste umfasst fast zu jeder Jahreszeit zwischen 100-200 Pflanzenarten. Warum gezüchteten geschmacksneutralen Kopfsalat essen, wenn ich Vogelmiere, Giersch, Schafgarbe pflücken kann? Wenn mein Wildpflanzensalat die verschiedensten Grüntöne aufweist und mit Blüten verziert ist? Ja, und über den vielleicht auch die ein oder andere Ameise läuft?

Tor Nørretranders, dänischer Autor und Wildpflanzenenthusiast, hielt 2011 im Rahmen des MAD Symposiums in Kopenhagen einen revolutionären Vortrag mit dem Titel „From Wild to tame – and back again“. Darin fordert er ein Umdenken der Gastronomen und ermutigt dazu, „high-tech hunter gatherers“ zu werden und den kulinarischen Wert von Wildpflanzen zu erforschen, Wildpflanzen neu zu entdecken und durch moderne Methoden genießbar zu machen.. „Wer sagt, man könne nicht essen was da draußen von alleine wächst? (..) Wir haben eine fantastische Mission. Ist die Welt essbar? Wir brauchen dazu Neugierde, Brillianz, wir müssen die Welt neu erforschen und sie neu betrachten!“

Wildpflanzen sammeln verwandelt die Welt in einen Bauernmarkt, habe ich neulich irgendwo gelesen. Das ist ein wunderbarer Gedanke, aber auch keine einfach Aufgabe.


Gerade für Städter. Es braucht Zeit und Wissen. Es braucht Geduld. Warum also der Aufwand? Weil es uns wieder mit der Natur verbindet, weil es altes Wissen rettet, das wir uns nicht leisten können zu verlieren. Weil es uns eine gewisse Macht gibt – es ermöglicht eine zumindest partielle Selbstversorgung, auch ohne eigenen Garten. Weil es Erfüllung und Spaß bringt. Schon ein paar wenige bekannte Kräutlein am Wegesrand bringen Abwechslung, Nährwerte und Vielfalt auf den Teller. Im Sinne von Tor Nørretranders: Die Welt ist essbar!

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